In einem Seminartag trafen sich Mitglieder der Seelsorgeeinheit Reutlingen-Nord am 11. Oktober mit Prof. Dr. Wilhelm Tolksdorf im Gemeindesaal in Pliezhausen, um darüber zu sprechen, wie die Veränderungen, die auf die Katholische Kirche aufgrund der sinkenden Mitgliederzahlen zukommen, gestaltet werden können.
Gleich zu Beginn seines Vortrages machte Prof. Tolksdorf deutlich: Die Debatten um die Veränderungen der kirchlichen Strukturen, die Vergrößerung der Pfarreien und die Reduzierung von Gebäuden und Personal sind nicht das, worauf es ankommt. „Die Programme der Bistümer“, so sagte er forsch, „sind nicht dafür gemacht, dass sie funktionieren. Das müssen sie auch nicht. Sie haben im Wesentlichen den Zweck, Menschen in Gang zu bringen.“
Suchen Sie Netzwerke!
Was eigentlich hilft in Zeiten der Veränderungen und der Krise, ist die Besinnung auf die Grundlagen. Unser Kirchenbild, so Tolksdorf, sei stark geprägt durch das 19. Jahrhundert. Aber die Ordnung in übersichtliche Pfarreien unter dem Regiment des Klerus ist nicht die einzig mögliche Form, Kirche zu sein. Worauf es wirklich ankomme, sei mit dem Begriff Zeugenschaft am besten getroffen. Kirche also als Gemeinschaft von Menschen, die Zeugnis geben für „tragfähige Modelle der Lebensdeutung“, wie der Theologe Albert Bisinger es formuliert hat.
Die Heimat, die wir in unserer Kirche finden, so stellte Prof. Tolksdorf fest, liegt vor allem in den Netzwerken, die wir haben. Die Gemeinschaften und Gruppen, in denen wir miteinander verbunden sind, prägen unser Heimat-Gefühl. Und so war sein Rat an diesem Tag: „Suchen sie Netzwerke!“ In den Prozessen grundlegender Veränderung, die auf uns als Katholiken zukommen, ist es nicht der Streit um Strukturen, um Eigentum, Rechte und Kompetenzen, sondern die Pflege von Netzwerken, was uns hilft, voranbringt und bewahrt.
Glauben neu fühlen und kommunizieren
Professor Tolksdorf kommt aus der Diözese Essen. Dort hat sich die Zahl der Katholiken mittlerweile mehr als halbiert, von 1,4 Millionen auf etwas mehr als 600.000. 1940, so lautete die Prognose, wird es in der gesamten Diözese noch 35 Priester geben. „Nichts bleibt auf dem Stand, wie wir es hatten“ ist sein Resümee aus den dort gemachten Erfahrungen.
Was können die Anregungen des Professors zu Zeugenschaft und Netzwerkbildung angesichts solcher Perspektiven konkret bedeuten? Um dies zu diskutieren wurden unter dem Motto „Glauben neu fühlen und kommunizieren“ im Anschluss an den Vortrag drei Workshops gebildet, die sich mit neueren Ansätzen der Glaubenskommunikation befassten.
Das Wunder des alltäglichen Glaubens war der Titel eines dieser Workshops. Gemeindeassistentin Christine Geier berichtete unter anderem von Schüler*innen aus bildungs- und kirchenfernen Schichten, die mit großer Klarheit Glaubensaussagen hervorbringen, die selbst sie als Theologin beeindrucken. „Mein Vater sagt immer…“, so fangen sie oft an und bringen tiefe Wertschätzung für alle Menschen und ernstes Gottvertrauen zum Ausdruck.

Christfluencerinnen und Christfluencer Gottes wurden im zweiten Workshop von Julia Scharla, der Tübinger Ausbilderin für Gemeindereferent*innen, vorgestellt. Auf Instagram und Tik-Tok finden sich Formen des Redens von Gott, die für die anwesende, etwas ältere Generation zum Teil verblüffend waren, die aber, wenn gut gemacht, große Reichweite erzielen und niederschwellig insbesondere junge Menschen erreichen kann, denen die übliche Verkündigung zu gewohnt, zu langweilig vorkommt.

Zeige den Menschen, was du liebst
„In den besten, wachsten, lebendigsten Augenblicken unseres Lebens fühlen wir uns mit einer Wirklichkeit verbunden, die weit über unser begrenztes Selbst hinausgeht.“ Psychologische Untersuchungen von Abraham Maslow und die grundlegende Bedeutung von Vertrauen, wie sie der Mönch David Steindl-Rast beschrieben hat, waren Ausgangspunkt für die Suche nach zeitgemäßen Wegen, über den Glauben zu reden.
„Die Gewissheit, das Schöne zu finden in allem was lebt, nennen wir seit alters Gott.“ Dieses Zitat aus einem Gedicht von Dorothee Sölle erkläre den oben genannten Begriff der Zeugenschaft: Zeige den Menschen, was du liebst – so ein Ergebnis des dritten Workshops von Bernhard und Iris Bosold unter dem Titel Gott erfahren – über Glauben sprechen lernen.

In der Abschluss-Runde des Tages wurde die Frage aufgeworfen, wie viele Katholiken die Modelle von Kirche als Zeugenschaft und Netzwerk überzeugen kann – hatte doch die alte Volkskirche den Menschen allein durch ihre Zugehörigkeit zu ihr eine Verbindung zu einem transzendenten Sinn gegeben, der nicht durch besondere Leistungen verdient werden musste.
So wird es auch weiterhin Gläubige geben, die weniger Vernetzung und Inhalt, sondern eher die üblichen Rituale in Gottesdienst und bei Anlässen wie Taufe, Firmung, Hochzeit und Beerdigungen suchen. Sie sollten nicht geringgeschätzt werden, denn sie tragen die Gemeinschaft der Kirche wesentlich mit. Neue Formen aber werden kommen und der Seminartag in Pliezhausen war ein Ausblick darauf, der alle Anwesenden positiv gestimmt auseinandergehen ließ.
Text: Jochen Frank